Teil
< 3 >
FR, PL, CH 

Erläuterungen zu Drei Farben Rot

 

Erläuterungen zu Drei Farben Rot

Der Erzähler in ROT hat seinen Figuren gegenüber einen Wissensvorsprung. Der Zuschauer wird zum Komplizen des komplexen Erzählens. Hier wird demonstrativ die formale Erzählstruktur offen gelegt.

Der Richter, der Belauscher der intimsten Abgründe seiner Mitmenschen, wird geradezu Kieślowskis Spiegelbild: Ein Schicksalsspieler und Manipulator, der gleich einem Filmschöpfer die Fäden im Hintergrund zieht. Wesentlich wird hier die Enthüllung des Illusionscharakters des Kinos. Kieślowski sieht den Zuschauer als Partner und ROT animiert diesen offen zum enträtseln der Geheimnisse.

Der moralisch-ethische Diskurs, der allen drei Filmen der Trilogie immanent ist, und das Prinzip der Umkehrung der jeweils vorgegebenen Maxime, werden hier deutlich. Bestimmend sind die Themen der Einsamkeit im Zeitalter der Beziehungsunfähigkeit sowie soziale In-/Kompetenz. In ROT spielen Kommunikationsmittel wie Radio, Zeitung, Anrufbeantworter, Fernseher und das Telefon (das Intimität und Distanz vereinigt) eine handlungstragende Rolle. Gerade der Prolog könnte zynisch als Kurzer Film der Telefone betitelt werden. Valentines Mutter, der Bruder, ihr Freund Michel sind nur am Telefon präsent. Menschen am Draht sind das Sinnbild der Vereinzelung (der moderne Mensch) und machen die Schwierigkeit der Anteilnahmen am Leben anderer im Zeitalter der Telekommunikation anschaulich. Die persönliche Kommunikation verschwindet.

Die Verbundenheit von Auguste und Valentine, obwohl sie sich unbekannt sind, wird durch Parallelmontagen, Gegenschnitte, zufällige Beinahe-Begegnungen angedeutet. Am Ende steht für sie evtl. ein Anfang.

Die Begegnung des Richters mit dem Fotomodel Valentine ist das aufeinander treffen zweier Welten, die in unausgesprochener, platonischer Liebe resultiert. Ihre Seelenverwandtschaft ist von Ungleichzeitigkeit geprägt. Der Richter wird von Valentine zum Leben bekehrt, gibt schließlich die Attitüde des selbstgerechten Weltenrichters auf und beginnt zu handeln. Valentine versöhnt den Richter mit seiner Vergangenheit, er wiederum gibt ihr Vertrauen in die Zukunft.

ROT ist ein Film gegen die Gleichgültigkeit. Auguste ist der hypothetische Doppelgänger des Richters, steht aber nicht für die Wiederkehr des immer Gleichen. Hier handelt es sich um eine Retrospektion in die Gegenwart.

ROT erzählt die spiegelverkehrte Geschichte eines Liebesfilms, wie sich zwei von ihrer Vorgeschichte befreien, um für einander frei zu werden. Kieślowski rettet die Geschöpfe seiner Kinowelt auf einer Arche Noah. Zweite Chancen, doppelte Leben.

Kieślowskis Mechanismus ist mit geradezu mathematischer Präzision aufeinander abgestimmt. Multiplikation der Perspektiven durch Variationen, Verdoppelungen, Parallelhandlungen, Spiegelungen, Symmetrien, Kontrapunkte, Zyklen, ethisch-moralische Dimension unseres Seins. Wirklichkeit wird bewusst fragmentarisch belassen. Weiche, natürliche Lichtdramaturgie, anstelle von Subjektivierung. Die Kamera ist das Auge des Erzählers. Sie belauert die Figuren und folgt ihnen neugierig. Konstruktion einer Art literarischen Welt in der man sozusagen mental zurückblättern kann. Musik der Entrückung und des Zaubers. Filmmaterial wird mit ästhetischer Reflexion und anderen Kunstarten angereichert. Obwohl jeder Film der Trilogie selbständig ist, wird jeder auch durch Analogien und Differenzen in Beziehung zu den beiden anderen gesetzt.

Kritik an ROT: Langeweile und Missachtung dramaturgischer Grundregeln a la Hollywood, Vorwurf emotionaler Kälte, Desinteresse Kieślowskis an begrifflicher Schärfe in Bezug auf die Parolen, weil Kieślowski nicht das Allegorische bemüht.

Skandal um ROT, als nach dem Preisregen für BLAU und WEISS, ROT bei der Goldenen Palme in Cannes übergangen worden ist und stattdessen Pulp Fiction diesen Preis bekam.