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Eine Frage der Interpretation

 

Eine Frage der Interpretation

Fritz Lang bringt das Thema, was sich durch den gesamten Film zieht, auf den Punkt: “Das Problem, meiner Ansicht nach, liegt darin, wie wir die Welt sehen.” Jede Figur sieht die Welt durch seine Augen und erzeugt dadurch immer nur seine eigene Interpretation der Wirklichkeit. Wirklichkeit ist demnach etwas sehr subjektives. Dass zwei Menschen eine Situation auf gleiche Weise interpretieren, ist demnach relativ unwahrscheinlich. Missverständnisse sind vorprogrammiert.

Die Handlung erzählt die Geschichte eines Liebespaares, was sich voneinander entfremdet. Beide setzten mehrmals an, um das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen. Erfolgsversprechende Möglichkeiten gibt es genug. Sie werden aber halbherzig verspielt. Am Ende ist das Missverständnis für einander so grundlegend geworden, dass die Vorstellungen des einen für den anderen nicht mehr nachvollziehbar sind. Jegliche Versöhnung ist damit ausgeschlossen und die Trennung besiegelt.

Mehrsprachigkeit

Wie Schwierigkeit es ist, sein Gegenüber wirklich zu verstehen, unterstreicht Godard durch die Mehrsprachigkeit. Fritz Lang redet meist in Deutsch. Der Produzent, Prokosch, redet Englisch mit breiten amerikanischen Akzent. Camille und Paul sprechen Französisch. Zum besseren Verständnis ist eine Übersetzerin engagiert worden. Doch selbst die Übersetzerin scheint die Sprachverwirrungen nicht aus dem Weg zu räumen, sondern gelegentlich sogar zu verstärken. Ihre Übersetzungen weichen häufig deutlich vom Orginaltext ab, da sie ihre eigene Interpretation des Gesprochenen wiedergibt.

Die unterschiedlichen Interpretationen von Homers Odyssee

Dass die Welt ganz unterschiedlich aufgenommen werden kann, zeigt auch die über den gesamten Film anhaltende Diskussion über Homers Odyssee. Warum ist Odyseus nach dem Trojanischen Krieg nicht zu seiner Frau heimgekehrt? Warum irrte er mit seinem Schiff im Mittelmeer herum? Prokosch ist mit der Interpretation von Fritz Lang unzufrieden. Ihn interessiert, ob etwas erfogreich ist und im Wettbewerb bestehen kann. Der Erfolg eines Filmes ist für ihn nur davon abhängig, ob er sich verkaufen läßt. Insofern ist er gegen die Produktion eines Kunstfilmes, wie sie Fritz Lang vorschwebt. Es wird deutlich, dass alle Figuren die Odyssee aus ihrem eigenen Background und ihrer momentanen Lebensverfassung heraus interpretieren. Selbst Fritz Lang, der sich für die Werktreue einsetzt, erscheint nicht glaubwürdig.

“Obwohl Lang so energisch auf die Notwendigkeit beharrt, Homers Odyssee die Treue zu halten, ist er im Film das schlagendste Beispiel dafür, dass dieser Vorsatz nicht einlösbar ist. In der Szene mit den Mustern kann er die griechische Vorstellung von Schicksal nur über einen Umweg illustrieren; es bedarf dazu der Stimme Dantes und Hölderlins. Damit verschiebt sich der bezugrahmen von einem heidnischen zu einem christlichen Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Gott1.”

Pauls Interpretation der Odyssee erscheint in einem weit tragischeren Licht. Indem Paul Prokoschs Interpretationsversuch zustimmt und den Kommerz bedienen möchte, verkauft er seine Seele. Prokosch sieht in der Irrfahrt des Odyseus den Unwillen des Heldes zu seiner untreuen Frau zurückzukehren. Die Identifikation mit dieser Sichtweise übt sich bei Paul auf sein Privatleben aus. Er beschuldigt Camille der Untreue und wird in der Folge unfähig zu ihr zurückzukehren. Die intressante Frage von Lang, ob die Interpretation Jerrys oder Pauls Version des Eposes sei, bleibt unbeantwortet.

Für Kaja Silvermann verdeutlicht Le Mépris, “dass Meistererzählungen ihre Macht nur dadurch bewahren, das sie ständig variiert werden, wobei jede Variantion sich von der vorherigen Fassung entfernt und neue Elemente einführt. Genau das bedeutet in diesem Film 'Übersetzung'. (...) Handlungsfähigkeit besteht darin, die Geschichten, die uns bestimmen, neu entwerfen zu können2.”

Die Subjektivität der Kamera

Über weite Strecken des Filmes bewahrt Jean-Luc Godards Inszenierung die beobachtende Distanz zu den Figuren und stellt es dadurch den Zuschauer frei, sich mit den verschiedenen Figuren zu identifizieren. In Ausnahmesituationen ergreift aber selbst die Kamera Partei. Als Paul Camille aus einer Kurzschlussreaktion heraus eine Ohrfeige gibt, bleibt die Kamera in Großaufnahme auf der gepeinigten Camille. Pauls Entschuldigungen und Begründungen für seinen Ausraster scheinen nicht zu interessieren. Deutlich erkennbar gibt der Filmemacher Godard seine scheinbar neutrale Beobachterstellung auf, und setzt die verletzte Camille in den Fokus der Beobachtung. Kaja Silvermann erkennt in der Fokussierung Camille eine “ordnende Struktur. Le Mépris hat seine Bindung an Camille bereits dadurch bezeugt, dass der Moment, in dem sie in Jerrys Wagen steigt, herausgehoben wird. Der Film fordert uns zudem auf, ihre Erinnerung an diesen Moment mit Pauls Erinnerung zu vergleichen und ihre Version zu bestätigen3.” Dadurch wird deutlich, dass auch das Filmemachen nie das reine Erzählen einer wahren Geschichte ist, sondern immer eine Interpretation der Ereignisse beinhaltet. Indem Godard dies offenlegt, veranlasst er den Zuschauer, die Welt selbstreflexiv zu betrachten und gegebenenfalls seine eigenen Interpretationsentwürfe in Frage zu stellen.

Die Welt behandelt einen, wie man die Welt behandelt. “Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus.” (Sprichwort)

Quellen

1 Kaja Silvermann, Harum Farocki: Von Godard sprechen, 2. Auflage, Berlin, Verlag Vorwerk, 1998, S. 65

2 ebd. S. 69

3 ebd. S. 63