Klassifizierung von Dokumentarfilmen

 

Klassifizierung von Dokumentarfilmen

Bill Nichols teilt Dokumentarfilme in fünf verschiedene Kategorien ein:

  • Expository Mode
  • Observational Mode
  • Interactive Mode
  • Reflexive Mode
  • Performative Mode

Expository Mode

Als klassichen Dokumentarfilmmodus nennt Nichols den Expository Mode, der mit dem Voice-Over die Bilder direkt kommentiert. Dieser Stil erfuhr in den 30er und 40er Jahren seine Blütezeit. Zu der Gattung des Expository Mode zählen die Dokumentarfilme der britischen Grierson-Tradition. Die Logik der Argumente bestimmt den Film, in sie werden die Interviews integriert. Dem Kommentar werden alle anderen Komponenten untergeordnet und angepaßt.

Aufgrund des dogmatischen Realismus ist dieser Ansatz des klassischen Dokumentarismus nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend zurückgedrängt worden. Er nimmt zwar im Fernsehdokumentarismus weiterhin eine große Rolle ein, nicht aber im künstlerisch Dokumentarfilm.

Observational Mode / Direct Cinema

Diese Stilrichtung versucht sich möglichst nicht in das Geschehen einzumischen. Die Bilder sollen unkommentiert für sich selbst sprechen. Der Filmemacher ist Beobachter (idealerweise neutral und ohne Drehplan) von Ereignissen im Prozess ihrer Entfaltung, um mit der Kamera und dem Mikrophon zu entdecken und einzufangen. Spontanität ohne Anweisungen, ohne Fragen, ohne direkte Kommunikation, keine Inszenierungen, keine Wiederholungen oder Nachstellungen, untypisch sind Interviews. Der Filmemacher greift nicht ein und beeinflusst auch nicht. Protagonisten sollten nach nichts, außer nach ihrer Erlaubnis gefilmt zu werden, gefragt. Idealerweise liegen dann auch alle Phasen der Produktion in einer Hand. Zu den bekantesten Vertretern dieser Stilrichtung gehörte das sogenannte Direct Cinema, welches im Jahre 1960 mit dem Film Vorwahlkampf neue Masstäbe setzte.

Das Bedürfnis des Direct Cinema entsprang der Unzufriedenheit mit den herkömmlichen Methoden des Filmemachens. Der Studiofilm kontrollierte die Kamera, inszenierte von einem privilegierten Standpunkt aus. Fernsehreportage degradierte Bildmaterial dazu den voice-of-god-Kommentar lediglich zu illustrieren. Spielfilm und Fernsehen waren von konservativen und reaktionären Strömungen beherrscht.

Schon bald wurde „on the other hand…on the other hand…on the other hand…“ der bestimmende Direct Cinema Refrain. Die Begründer der Stilrichtung sind Richard Leacock und Robert Drew (Journalist und Bildredakteur beim Life Magazin). Sie wollten die Methode der candid Photography auf das Filmmedium übertragen. Zusammen gründeten sie die Drew Associates, ein Zusammenschluss von Filmemachern, welche die neuen technischen Möglichkeiten an Hand des Dokumentarfilms für die Fernsehgesellschaft ABC erproben wollten.

Leacock und Drew waren auch maßgeblich an der Fertigung der gewünschten Ausrüstung beteiligt. Sie arbeiteten am kompakteten, tragbaren Tonbandgerät und an einer leisen und leichten 16mm-Kamera mit Zoomobjektiv. Außerdem setzten sie sich für die Beweglichkeit des Kameramannes ein, um den Ausschnitt zu variieren ohne die Kontinuität zu gefährden. Zusätzlich kam neues, hochempfindliches Filmmaterial auf den Markt, das das Filmen in Innenräumen ohne zusätzliches Licht ermöglichte.

Interactive Mode / Cinema vérité

Bei der Interactive Mode arbeitet die Filmcrew nicht versteckt hinter der Kamera, sondern interagiert direkt mit der zu beobachtenden Welt. Im Gegensatz zum Observative Mode verfolgt diese Stilrichtung eine völlig andere Strategie. Indem sich der Filmemacher direkt ins Geschehen stellt, macht er sich und seine subjektive Haltung sichtbar und dadurch direkt angreifbar. Seine Position zum Geschehen ist nicht absolut, sondern erscheint als eine unteren mehreren vertretenen subjektiven Meinungen. Oftmals treten Vertreter dieser Filmrichtung in ihren Dokumentarfilmen als Provokateure auf. In den letzten Jahren wurde der US-Amerikanische Filmemacher Michael Moore durch seine provokanten Doku-Filme bekannt. Sein Beispiel zeigt, dass es ein Hauptanliegen dieser Methode ist, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und auf Misstände aufmerksam zumachen.

Entwickelt hat sich die Interactive Mode parallel zur Observative Mode in Frankreich. Neben dem Direct Cinema entstand in Europa das Cinéma vérité, welche zum Initiator der interactive Mode wurde. Beide Stilrichtungen griffen auf die damals neuartige Filmtechnik zurück und arbeiten mit den leichten 16mm Kameras und den kabelloser Synchrontonvorrichtung, auch Nagra-Tongerätes genannt. Das neue lichtempfindliche Filmmaterial ermöglichte es ohne zusätzliche Beleuchtung das Geschehen aufzunehmen.

Reflexive Mode

Diese Stilrichtung wurde in den 1980er Jahren inmmer populärer. Der reflexive Modus vertritt keine geschlossene Form mit fixem Thema. Der Filmemacher ist sich darüber bewusst, dass seine Sicht auf die Wirklichkeit ein subjektives Konstrukt darstellt, welches von den sozialen Kontexten abhängt. Der Repräsentationsanspruch wird aufgegeben und die Darstellbarkeit von Objektivität offen in Frage gestellt. Der kulturelle Kontext und die historische Bedeutungsebene, in denen der Film entstand und zu denen sich der Filmemacher selbst bekennt, wird analysiert und nicht als absolut gesetzt. Ein Ziel ist es auf die Entstehungsbedingungen des Filmes hinzuweisen und sie offen zulegen. Die Strategie dieser selbstreflexiven Wirklichkeitsbetrachtung wurde der Ethnologie entlehnt.

Die dem Stil eigene Alinearität, die durch das stete Hinterfragens des Kontextes entsteht, ermöglicht die Verwendung von mehreren Stilmitteln älterer Modi. So prägt ein Stilmix die Praxis aktueller Dokumentarfilmproduktion, wobei in der Regel ein Modus dominiert. Das Nebeneinander der verschiedenen Modi, z.B. von direkter und indirekter Adressierung, stellen den traditionellen Repräsentationsanspruch des Dokumentarfilms grundlegend in Frage. Die klassische Form des Realismus wird selbst hinterfragt.

Performative Mode

In seinem 1993 erschienenen Buch erkennt Bill Nichols eine neue Tendenz in der Produktion von Dokumentarfilmen. Die vier Stilrichtungen werden durch den in den 1990er Jahren neu aufgekommenen performativen Modus ergänzt. Noch stärker als der reflexive Mode betont die neue Richtung den subjektiven Charakter. Die Dokumentarfilme dieses Typus kennzeichnet ein deutlich experimenteller Stil. Die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm werden aufgeweicht. Die Vertreter dieser Gattung besitzen eine Vorliebe für das Lokale, Konkrete. In klar umrissenen, örtlichen Kontexten bearbeiten sie abstrakte Themen. Diese Stilrichtung erlaubt es, das Abstrakte mit dem Konkreten, das Allgemeine mit dem Besonderen, das Individuelle mit dem Kollektiven und das Politische mit dem Persönlichen zu verbinden. Das traditionelle entkörperlichte Wissen wird den lokal situierten Körpern der Akteure gegenübergestellt.

Der performative Dokumentarfilm stellt nach Nichols ein Paradox dar. Er schafft ein Spannungsverhältnis zwischen Performance und Dokument, dem Persönlichen und dem Typischen, dem Verkörperten und Entkörperten, Geschichte und Wissenschaft. Ins Zentrum der Dokumentartion rückt das unausgesprochene Wissen, all die Erfahrungen, die über den Körper selbst mitgeteilt werden. Die Konzentration fokusiert sich nicht mehr auf das gesprochene Wort von Experten und Zeugen, sondern auf das implizide Wissen. In diesem Zusammenhang kommt es verstärkt zum Einsatz von Techniken des Spielfilms.

Quellen

  • Nichols, Bill: Representing Reality – Issues and Concepts in Documentary. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, 1991.
  • Nichols, Bill: Performing Documentary. In: Bill Nichols: Blurred Boundaries. Questions of Meaning in Contemporary Culture. Ort:Bloomington/Indianapolis, 1994, S.92-106.
  • Daniel Winkler: Repräsentationsformen der Pariser Banlieue der 90er Jahre zwischen Dokumentation und Konstruktion – Diplomarbeit. Wien: Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien 2000. (Download)